Project Description

MIT GÄNSEHAUTEFFEKT

Berufskraftfahrerin Kerstin Irps pflegt eine Lasterliebe, die mehr oder weniger aus Zufall entstand, sich aber prächtig entwickelt hat.

Theoretisch könnte Kerstin Irps in einem Büro sitzen und Pläne oder Kalkulationen für eine Großbaustelle bearbeiten. Schließlich hat sie Bauzeichnerin gelernt und fünf Semester Bauingenieurwesen studiert. Praktisch sitzt sie auf dem Fahrersitz ihres DAF XF und verstaut ihren Proviant in der Kühlschrankbox unterm Bett. „Ich dachte mir, ich bin ein Jahr lang so frei und fahre lieber Lkw, als in der Uni zu büffeln“, erklärt sie und grinst. Aus den Urlaubssemestern wurden 13 Jahre, aus dem Job im Ingenieursbüro wurde nichts.

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens. Kerstin steigt mit einer Taschenlampe noch mal kurz aus und verschwindet im Dunkel rund um ihren Sattelzug. Abfahrtskontrolle. Dann geht’s auch schon los zu ihrer Ladestelle, die Anfahrt dauert nur ein paar Minuten. Hauptsächlich ist sie im Großraum Paderborn unterwegs, im Auftrag einer Firma die Kartonagen herstellt. Handschuhe an, Plane auf, Alulatten runter, Schieberungen bei Seite – die Handgriffe sitzen und gehen ruckzuck. Je nach Tourenplanung geht das ein Dutzend Mal am Tag so, manchmal noch öfter. Körperlich wäre das schon okay, meint Kerstin. Nur im Winter, wenn die Plane ab und zu steinhart gefroren ist, ist es nicht so der Hit. Aber es gehört eben dazu.

„Bei der Arbeit hinlangen und mir meine Feminität bewahren, schließt sich für mich nicht aus. Nur weil ich diesen Beruf habe, muss ich mich nicht benehmen oder aussehen wie ein Mann.“

Während der Staplerfahrer die erste Fuhre des Tages, vorgefertigte Pappkisten für die Teile eines Automobilzulieferers, auf den Trailer stapelt, lehnt Kerstin an ihrer Zugmaschine. Sie beobachtet mit gestrengem Auge die Beladung und trinkt ihren Kaffee. Ihr Thermobecher ist rosa mit weißen Tupfen, ihre Fingernägel sind lackiert. Heute in kräftigem Blau, passend zum Lkw. „Bei der Arbeit hinlangen und mir meine Feminität bewahren, schließt sich für mich nicht aus. Nur weil ich einen Beruf habe, der eher Männern zugeschrieben wird, muss ich mich nicht wie einer benehmen oder wie einer aussehen“, findet sie.

Innen im DAF winden sich Ranken aus kleinen gelben Filzstoffblümchen unterhalb der Staufächer und auf der Unterseite vom hochgeklappten oberen Bett entlang. Eine Lichterkette mit feinen, silbrig glänzenden Schmetterlingen ist mit Stecknadeln an die Kabinenrückwand gepinnt. Feminin halt. „Mein Chef verdreht immer nur die Augen“, erzählt sie lachend. „Aber ich möchte es schön haben in meinem zweiten Wohnzimmer und etwas Deko ist eben mein Ding.“ Elf Jahre lang fuhr Kerstin im nationalen Fernverkehr kreuz und quer durch Deutschland und ab und zu nach Österreich und in die Schweiz. Sie verbrachte den Großteil ihres Lebens in der Kabine: „Das Fahrerhaus war, wie bei vielen Kollegen, mehr meine Heimat als meine Wohnung. Ich kannte meine Nachbarn im Haus gar nicht richtig, kein Wunder, ich war ja nie daheim.“ Trotzdem war das genau das, was sie tun wollte.

Dabei hatte die 36-jährige ursprünglich rein gar nichts mit dem Thema Lkw am Hut. Doch dann lernte sie ihren damaligen Freund kennen, einen Lkw-Fahrer. „Ich fuhr mit ihm mit und kam schnell zu der Überzeugung: Das will ich auch können! Jedoch war es für mich zuerst eine Herausforderung und ein Abenteuer, einen 40-Tonner fahren zu dürfen, kein erklärter Berufswunsch.“ Um Geld für den Führerschein zu verdienen, jobbte Kerstin in den Semesterferien auf Baustellen. „Ausschalen, betonieren, spachteln, fegen – ich hab’ alles gemacht, das war mir total egal. Ich erinnere mich noch genau an das entsetzte Gesicht meiner Mutter, wenn ich nach Hause kam, dreckig von Kopf bis Fuß.“

Auf dem Weg über die Bundesstraße zu der Fabrik, die die Ladung Kartons bekommt, färbt der Sonnenaufgang den Horizont in einer kräftigen Mischung aus Pink, Rosa, Gelb, Orange und Gold. Wie im Bilderbuch. Kerstin lächelt und deutet zur Frontscheibe: „Kitschiger geht’s kaum, aber so einen Anblick während der Arbeit zu genießen, das ist doch einfach toll, oder?“

Als sie mit 23 den Führerschein in der Tasche hatte, bewarb sie sich auch bei Speditionen, die in der Branche nicht den allerbesten Ruf genossen. „Seien wir doch mal ehrlich, ich war ein junges Mädel mit null Berufserfahrung. Ich „durfte“ zwar einen Lkw fahren, aber von „können“, war das noch weit entfernt.“ Praxis musste her und diese Firmen stellten quasi jeden ein. Das war ihre Chance, also hieß es Zähne zusammenbeißen und durch. Anderthalb Jahre später hatte sie keine Probleme mehr, einen guten Job zu finden.

Inzwischen ist sie seit sechs Jahren für ihren aktuellen Arbeitgeber tätig und fährt seit zweieinhalb Jahren im Nahverkehr. Dabei war eigentlich „nichts geht über Fernverkehr“ immer ihr Motto: „Ich habe unzählige schöne Momente erlebt und unterwegs so viele liebe Menschen kennengelernt. Meine allerbesten Freundschaften sind auf diesem Weg entstanden. Diese Zeiten fehlen mir auch immer noch ein bisschen.“ Warum sie dann auf Nachverkehr umgestiegen ist? „Wir konnten einen guten Kunden für uns gewinnen und nun fahre ich eben diese Touren. Da bricht mir kein Zacken bei aus der Krone. In meiner Firma passte es nämlich einfach menschlich für mich. Das ist mir sehr viel wert.“ Was für Kerstin hier zählt, ist eine saubere Fahrerkarte, realistische Terminplanung und, vor allem, ein Chef, der nicht davor zurückschreckt, sein Fahrer in Schutz zu nehmen und Kunden daran zu erinnern, dass es geltende Gesetze gibt, auch wenn sich andere vielleicht nicht daran halten.

„Die Öffentlichkeit hört immer, wenn ein „Trucker“ negativ in Erscheinung tritt. Die zigtausenden Kolleginnen und Kollegen, die gut und gewissenhaft ihren Job machen, fallen ja nicht auf.“

Während die Entladung etwas auf sich warten lässt, holt Kerstin eine Mappe mit Unterlagen aus dem Staufach. Darin liegt ein Brief von ihrem Chef. Er hatte ihn ihr zu ihrem fünfjährigen Jubiläum in der Firma geschrieben. „Ich bekam auch einen kleinen Bonus dazu, aber ganz ehrlich, das Geld war mir so piepegal. Als ich den Brief las, musste ich schwer mit den Tränen kämpfen. Der Inhalt ist sehr persönlich und mein Chef ist sonst kein Typ, der viele Worte macht. Diese Geste ist für mich die allergrößte Wertschätzung.“ Natürlich knirscht es zwischen ihr und ihrem Boss auch mal, aber, so beschreibt sie, das ist dann auch wieder ruckzuck vom Tisch. „Ich kann mich auf ihn verlassen und er sich auf mich.“

Den Brief zeigte sie auch ihrem Vater, der davon tief beeindruckt war. „Meine Eltern hatten sich für mich einen etwas anderen Lebensweg vorgestellt. Das war für uns alle drei nicht immer einfach. Aber inzwischen akzeptieren sie es und mein Vater ist sogar schon ein paar Mal bei mir mitgefahren.“ Dass viele Menschen die Begeisterung für diesen Beruf nicht unbedingt nachvollziehen können, wundert Kerstin nicht: „Ist doch klar, die Öffentlichkeit hört und liest immer nur davon, wenn ein „Trucker“ negativ in Erscheinung tritt. Die zigtausenden Kolleginnen und Kollegen, die jeden Tag ganz normal, gut und gewissenhaft ihren Job machen, fallen ja nicht auf.“

Die negativen Aspekte waren Kerstin am Anfang nicht wirklich bewusst, das gibt sie ganz freimütig zu: „Klingt vielleicht etwas naiv, aber als ich damals mit meinem Freund mitgefahren bin, hatten wir einfach nur eine schöne Zeit.“ Aber auch nach 13 Jahren und um viele Erfahrungen reicher, bereut sie ihre Entscheidung nicht. Für sie, so sagt sie, überwiegen die positiven Dinge ganz klar. Zum einen ist sie immer noch sehr stolz auf sich, so ein großes Fahrzeug zu beherrschen: „Naja, nach so viel Übung sollte man es können und zum Großteil ist das Fahren heute nur noch angenehme Routine. Aber es gibt doch immer wieder knifflige Situationen, die einen herausfordern.“ Zum anderen ist der Lkw inzwischen weit mehr als nur ein Arbeitsgerät für sie: „Die Zugmaschine ist mein Baby. Ich liebe den Truck, den ich fahre. Immer! Der ist dann auch der schönste und beste auf der Welt. Ganz einfach, weil es meiner ist.“

Wenn sie manchmal in ihren Pausen etwas Muße hat und darüber nachdenkt, wie ihr Leben wohl jetzt aussehen würde, hätte sie sich damals nicht mit dem Diesel-Virus angesteckt, kommt sie zu dem Schluss, dass sie sicher nicht so glücklich wäre, wie sie es jetzt ist. Einer anderen Arbeit nachzugehen, kann sie sich im Augenblick nicht vorstellen: „Als ich neulich nach 14 Tagen Urlaub das erste Mal wieder hier auf meinen Sitz saß, bekam ich total Gänsehaut. Ich schätze, das können nicht viele nachempfinden, aber für mich ist es dieses Gefühl das meinen Beruf für mich ausmacht.“

Fotos & Text: Sandra Moser

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